Lieblingslied gegen Lockdown-Frust

„Das Leben ist kein Wunschkonzert – aber manchmal spielt es dein Lieblingslied.“ Frei nach diesem Motto haben sich einige MusiktherapeutInnen zusammengetan und die Initiative lieblingslied.at gestartet.

Wer sich in der aktuellen Krise belastet fühlt und Gesprächsbedarf hat, kann über eine Online-Plattform oder telefonisch das eigene Lieblingslied bekannt geben. Schon bald meldet sich jemand aus dem Team und spielt dieses Lied vor. Meist singt und musiziert der/die MusiktherapeutIn dabei live per Telefon oder Videochat. Nur bei komplexen Orchesterwerken oder Filmmusik wird das Stück gemeinsam angehört.

Erinnerungen an positive Dinge

„Das Lieblingslied ist der Aufhänger für das Gespräch. Es geht darum, was die Person mit dem Lied verbindet, aber vor allem um die derzeitige Belastungssituation. Wir sprechen über positive Anker und Ressourcen und schauen auf das, was möglich ist“, erklärt Anna Feichter. Sie ist Musiktherapeutin und eine der KoordinatorInnen. Lieblingslied.at sei keine Therapie, sondern ein präventives Projekt. „Das Gespräch ist dafür da, dass man in einer belastenden Zeit einmal etwas Anderes erleben oder sich an etwas Positives erinnern kann. Meist rundet es sich in einer halben Stunde gut ab.“ Bei tiefergehendem Gesprächsbedarf werde auf Krisennummern wie Rat auf Draht verwiesen.

Die Idee entstand am Vorabend des ersten Lockdowns, an dem der Musiker und Musiktherapeut Manuel Goditsch aus seinem Fenster im 16. Wiener Bezirk ein Lied spielte. Spontan haben sich andere BewohnerInnen im Hof versammelt. Goditsch hat dann im Stiegenhaus einen Zettel für die Liederwünsche der NachbarnInnen aufgehängt und jeden Tag ein anderes Lieblingslied live gespielt. Das inspirierte ihn, gemeinsam mit Thomas Stegemann, dem Leiter des Zentrums für Musiktherapie-Forschung (WZMF), die Initiative lieblingslied.at ins Leben zu rufen.

Eine Heimbewohnerin spricht über ihr Lieblingslied

Derzeit sind neben einem fünfköpfigen Koordinations-Team zehn ausgebildete MusiktherapeutInnen und Studierende höherer Semester unter Supervision mit an Bord. Sie alle arbeiten ehrenamtlich, denn das Gesprächsangebot ist kostenlos. Die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), der Österreichische Berufsverband der MusiktherapeutInnen (ÖBM) und weitere Initiativen unterstützen das Projekt.

Menschliche und musikalische Begegnungen

„Das Projekt hat besonders im ersten Lockdown nicht nur den Teilnehmenden, sondern auch den mitwirkenden MusiktherapeutInnen einen gewissen Sinn gegeben, denn damals durften wir nicht praktizieren“, sagt Feichter. Sie schildert anrührende Begegnungen, die dabei entstanden sind. Einmal habe Stegemann, der selbst aus Norddeutschland stammt, einer Teilnehmerin mit Hamburger Wurzeln ein Lied auf Plattdeutsch vorgesungen. Alle mitwirkenden TherapeutInnen haben ihre bevorzugten Genres angegeben, daher können die meisten Musikwünsche – von Volksliedern bis Jazz – gut abgedeckt werden.

Die Art der Lieblingslieder ist bunt gemischt und das Alter der Teilnehmenden reicht vom achtjährigen Hobbyklarinettisten bis zur älteren Heimbewohnerin. „Manchmal haben auch Kinder angerufen, die sich für die Mama oder die Oma etwas gewünscht haben“, so Feichter. Die InitiatorInnen wünschen sich, dass noch mehr Menschen ihr Gesprächsangebot annehmen. Es eignet sich für jeden und jede, denn für die meisten von uns ist die momentane Situation teilweise belastend. Die Sorge, jemandem einen Platz streitig zu machen, oder selbst nicht „bedürftig“ zu sein, ist unbegründet. Die Initiative lieblingslied.at läuft derzeit mit offenem Ende.

Wer sich für ein Gespräch interessiert, kann den eigenen Musikwunsch kostenlos auf lieblingslied.at oder telefonisch unter 0664 8414343 mitteilen. Auf Facebook und in Youtube-Videos gibt es weitere Infos.