Musikalische Lektüre – Teil I

Kazuo Ishiguro: Bei Anbruch der Nacht

Viele Schriftsteller sind entweder selbst Musiker, oder die Musik spielt in ihren Werken immer wieder eine Rolle. Einer von ihnen ist der japanischstämmige Autor Kazuo Ishiguro, der 2017 den Nobelpreis für Literatur erhielt. In seiner Jugend hat Ishiguro selbst davon geträumt, Musiker zu werden, und er schreibt gelegentlich Songtexte. „Read with your ears“, schreibt eine Kritikerin über eines seiner Bücher, das für sie „wie ein Sitzplatz bei einem Konzert“ gewesen sei.

Auf Sitzplätze bei einem Konzert warten wir momentan immer sehnlicher. Bis dahin kann uns (auch) das Lesen über Musik helfen, die Wartezeit zu überbrücken. Ishiguros Erzählband Bei Anbruch der Nacht – treffender ist der englische Titel Nocturnes: Five Stories of Music and Nightfall – hat auf mich wie ein Heilmittel gewirkt.

Lose miteinander verwoben und mit offenem Ende, erzählen die Geschichten von Liebe und Vergänglichkeit. Ishiguro nimmt uns mit zu Straßenmusikern und Singer-Songwritern, Jazz-Musikern und Cellisten, deren Schicksale von der Musik gelenkt werden: in ihrem Leben, in ihren Entscheidungen und in ihren (gescheiterten) Beziehungen. Lebensklug, tragisch, und manchmal auch komisch sind Ishiguros Erzählungen – immer mit einer melancholischen Note, einem Hauch von Blues. Großartig.

Kazuo Ishiguro
Bei Anbruch der Nacht. Erzählungen.
Heyne Verlag, 2016
EUR 10,90
240 Seiten
ISBN-13 : 978-3453421561