Der Wiener Musikverein ist weltberühmt: Immerhin wird das alljährliche Neujahrskonzert im „goldenen Saal“ in über 90 Länder übertragen. Wer Musik liebt, hat also sicher zumindest im Fernsehen schon einmal eines der Konzerte genossen und dabei die prunkvolle Ausstattung bewundert. Eine öffentliche Führung gab uns kürzlich Einblicke in Details, die uns beim Konzertbesuch bisher verborgen geblieben sind.
Das Haus der Gesellschaft der Musikfreunde nahe der Wiener Ringstraße wurde Anfang 1870 eröffnet. Schwerpunkt der Führung ist – wie könnte es anders sein – der Große Saal mit rund 2000 Sitz- und Stehplätzen. Christina, unser Guide, weiht uns ein: Die edlen Materialien, die dem „goldenen Saal“ seinen Namen geben, sind gar nicht echt! Ungläubige Blicke. Doch tatsächlich, der Klopftest beweist: Hinter Gold und Marmor verbergen sich Holz und Gips. „Die Musikfreunde hatten als private Gesellschaft nicht die finanziellen Mittel dafür“, erklärt Christina. Der positive Effekt: Holz ist ein guter akustischer Leiter. Weitere bauliche Faktoren tragen dazu bei, dass dieser Saal klanglich weltweit als einer der besten für klassische und romantische Musik gilt: Unter dem Holzboden des Saales liegt ein Hohlraum als Resonanzkörper, und die hölzerne Raumdecke ist am Dachstuhl aufgehängt, damit der Klang im Raum schwingen kann.
Überall im Saal erkennen wir mythologische Figuren und Elemente, die an die griechische Architektur erinnern. Der dänische Architekt Theophil Hansen hatte lange in Athen gelebt und sich dort inspirieren lassen. Blicken wir nach oben, sehen wir Deckengemälde mit Apollo und den Musen, die Seitenwände zieren „Karyatiden“, weibliche Säulenfiguren. „Anders als in antiken Tempeln haben diese Figuren hier allerdings keine statische Funktion“, sagt Christina. Aber auch sie tragen – wie die Balkone und Gesimse – dazu bei, dass die Schallwellen optimal gestreut werden. Für Theateraufführungen eignet sich der Große Saal allerdings nicht. Das liegt an der langen Nachhallzeit: Dass sich der Ton so lange im Raum hält, ist für gesprochene Sprache nicht optimal.
Ohnmächtige Damen und exerzierende Truppen
Guide Christina lässt die Geschichte lebendig werden. Wir erfahren, dass Anton Bruckner noch auf der Orgel im Großen Saal unterrichtet hat, und dass Johannes Brahms drei Jahre lang künstlerischer Leiter des Musikvereins war. „Es war wohl nicht einfach, mit Brahms zusammenzuarbeiten“, so Christina, „aber er hat dem Musikverein seinen gesamten Nachlass vermacht.“ Im 19. Jahrhundert wurden die Damen in der Sommerhitze reihenweise ohnmächtig, und so hat man sich entschieden, im August mit dem Spielbetrieb zu pausieren. Diese Sommerpause hat man bekanntlich bis heute beibehalten. Auch gegen die Kälte gab es damals ein Rezept: „Im Winter haben hier vor Konzerten die Truppen von Kaiser Franz Joseph exerziert und den Saal mit ihren Körpern aufgeheizt.“ Wir staunen – und sind froh, dass es heute Heizung und Klimaanlage gibt.
Das erste Neujahrskonzert fand 1939 statt: Wien wollte damit nach dem „Anschluss“ ans Deutsche Reich seine Identität bewahren und sich vom Berliner Neujahrskonzert abgrenzen. Bis heute werden dabei am 30. und 31. Dezember und am 1. Jänner vor allem österreichische Komponisten gespielt. Alle Konzerte werden übrigens aufgezeichnet, falls etwas schiefgeht. „Wenn man auf den Videos genau hinschaut, wechselt manchmal das Publikum“, so Christina. Was man auf den Aufzeichnungen nicht sieht: Nach der letzten Aufführung darf das Publikum den Blumenschmuck pflücken. „Das ist ein lustiges Bild, wenn die eleganten Damen die Blumen rausreißen.“
Wer das alles einmal live erleben möchte, muss auf sein Glück vertrauen: Die Kaufmöglichkeit der Tickets fürs Neujahrskonzert wird per Lotterie verlost. Dabei gibt es für 6000 Tickets teilweise 500 000 Bewerber. Abseits dieses populären Konzert-Highlights gibt es aber jede Menge Möglichkeiten für Klangerlebnisse: In den zwei historischen und drei modernen Sälen finden im regulären Spielbetrieb an 300 Tagen 800 Konzerte statt.
Der Brahmssaal, der kleinere historische Saal, erinnert an einen griechischen Tempel und ist ideal für Kammermusik. Hier hat Clara Schumann das Eröffnungskonzert gespielt. Sie ist übrigens die einzige Komponistin, die im Musikverein mit einer Büste verewigt wurde – man findet sie im Treppenaufgang. Im Brahmssaal gibt es Seiten- und Deckenfenster, denn die Konzerte fanden dort früher überwiegend bei Tageslicht statt. Da so viel Holz verbaut wurde, waren Gaslampen gefährlich. „Pfeifen war damals verpönt“, weiß Christina, „denn man hatte Angst, dass bei hohen Frequenzen die Gaslampen explodierten.“
Perfekter Klang direkt neben der U-Bahn
In den frühen 2000er-Jahren kamen die modernen Konzertsäle hinzu, namentlich der gläserne, metallene und steinerne Saal, benannt nach ihren Baumaterialien. Einen hölzernen Saal gibt es auch noch, aber dort finden keine Konzerte statt. Die modernen Säle liegen vier Meter unter der Erde – auf demselben Niveau wie die U-Bahn. Wie kann das funktionieren? Christina erklärt: „Der Bau der Säle wurde damals mit dem Ausbau der U-Bahn koordiniert und obendrein war der Baumeister selbst Akustiker. Darum hört man die U-Bahn in den Sälen nicht.“
Vom gläsernen Saal erfahren wir, dass er die perfekte Probebühne ist: „Die Nachhallzeit ist kürzer als im Großen Saal, dadurch hört man die Fehler besonders gut.“ Der Saal eignet sich auch für musikalische Lesungen, Jazz und moderne Musik. Bevor er im Jahr 2004 eröffnet wurde, hat man ein Jahr lang Feedback von den Musikern gesammelt. „Deshalb hat man auf der gläsernen Galerie nachträglich noch einen grauen Sichtschutz angebracht“, verrät Christina. „Die Musiker fühlten sich davon abgelenkt, dass sie den Frauen unter die Röcke schauen konnten.“ Zuhörerinnen dürften sich über diese Verbesserung freuen. Und wir freuen uns, in einer knappen Stunde einen kurzweiligen Blick hinter die Kulissen dieses Traditionshauses bekommen zu haben. (Über einen – ebenso aufschlussreichen – Besuch im Wiener Konzerthaus, berichten wir übrigens im ersten Teil dieser Mini-Serie).
Die öffentlichen Führungen im Wiener Musikverein finden normalerweise montags bis freitags statt, in deutscher und englischer Sprache. Weitere Infos, Termine und Tickets auf der Website.
(Credits: Titelfoto: ©Bwag/Commons; goldener Saal: ©Clemens Pfeiffer)