Es ist ein Mittwoch im März. Der Tag, an dem zu Mittag verkündet wird, dass vorläufig nur noch Veranstaltungen mit bis zu 100 Teilnehmern erlaubt seien. Kurz darauf dann: die komplette Schließung. Während man im Wiener Konzerthaus damit beginnen muss, Konzerte abzusagen, haben zwei Berliner Touristen und ich uns dort zu einer Führung eingefunden.
Er wage nicht, sich eine Schließung des Konzertbetriebs auszumalen, sagt unser Guide, der sich als Ramiro vorstellt. Aber unsere Führung könne natürlich noch stattfinden, wir seien ja nur zu dritt. So stehen wir also im Foyer und nehmen Details war, an denen wir sonst achtlos vorübergehen. Das verschlungene Logo mit den Buchstaben WKH auf den Bodenfliesen und Türknäufen zum Beispiel. Ramiro zeigt uns eine Aufnahme von 1900, entstanden genau an dieser Stelle – noch bevor das Konzerthaus gebaut und im Oktober 1913 eröffnet wurde. Ein Besucher habe dieses private Foto vorbeigebracht: „Das passiert uns immer wieder mal. So etwas gibt es wohl nur hier in Wien!“ Die Berliner nicken zustimmend.
Wenn alle drei Säle voll sind, tummeln sich bis zu 4000 Konzertbesucher im Gebäude. Die ausgeklügelte Architektur des Foyers mache es möglich, so Ramiro, dass der Geräuschpegel selbst dann noch erträglich sei. Damit die Architekten im Großen Saal die Farben Rot und Gold verwenden durften, musste die kaiserliche Genehmigung eingeholt werden. Eine Besonderheit ist auch, dass es keine Plätze mit eingeschränkter Sicht gibt – anders als beispielsweise im Musikverein. Seine Stehplätze hat das Konzerthaus vor vielen Jahren abgeschafft – in der Staatsoper gibt es sie heute noch.
Dass sich der Große Saal auch für prunkvolle Bälle eignet, wussten wir. Aber wer hätte gedacht, dass in diesem Ambiente sogar Box- und Fechtmeisterschaften stattgefunden haben? Die Stuhlreihen lassen sich innerhalb von zwei Stunden komplett abmontieren. Ramiro weiht uns in weitere Raffinessen ein: Die meisten Verzierungen sind nicht nur dekorativ, sondern erfüllen gleichzeitig eine Funktion. Hinter Ornamenten nahe der Bühne gab es früher Inkognito-Logen für Prominente, die Heizung liegt unter Löchern im Saalboden und die Belüftung ist hinter Rosetten an den Wänden verborgen. Der Clou: an der Decke in der Saalmitte ist unter einer Rosette eine Orgelpfeife versteckt. Sie wird für Engelsstimmen eingesetzt, die von oben kommen – ein dramatischer Klangeffekt fürs Publikum.
Spannend wird es für uns vor allem dort, wo wir als Konzertbesucher sonst keinen Zutritt haben. Wir stehen in einem der Künstlerzimmer und stellen uns vor, welche berühmten Pianisten sich an diesem Flügel eingespielt haben. Verschmitzt deutet Ramiro auf eine Tür. Wer dahinter das WC vermute, liege nur teilweise richtig. Dort sei auch ein Verbindungsgang zwischen den Zimmern – für den Fall, dass Solist und Dirigent etwas besprechen müssten. Sofa und Vitrine im Dirigentenzimmer sehen aus, als seien sie noch das Originalmobiliar. Der Dirigent hat es von dort nicht weit zur Bühne. Die ideale Distanz dafür, sagt Ramiro, seien elf Schritte, das gehe sich im Konzerthaus ungefähr aus.
Wir blicken durch einen Spion auf die Bühne, durchqueren den Aufenthaltsraum der Orchestermusiker und lesen gerahmte Briefe bekannter Dirigenten an den Wänden. Ramiro – der Profigeiger und Bibliothekar ist – führt uns leidenschaftlich durch das Labyrinth aus Gängen und Stiegen. Er kennt jeden Winkel, lässt keine Frage unbeantwortet, und wir vergessen die Zeit. Zum Schluss diskutieren wir an der Portiersloge noch über Orgelbau, bekommen Postkarten als Souvenir und bewundern antikes Silberbesteck. Bis die Berliner los müssen, um Wien zu erkunden, so lange ihnen das noch möglich ist.
Mittlerweile hat das Wiener Konzerthaus wieder eröffnet – erste Veranstaltungen mit maximal 100 Personen finden ab Anfang Juni statt. Führungen wird es jedoch voraussichtlich erst wieder ab Herbst 2020 geben.
(Titelfoto: www.lukasbeck.com; sonstige Fotos: privat)